Meine Betroffenheit weicht meinen Fragen
gepostet am 14. Januar 2015
Und damit diese nicht, wie so oft in Sprachlosigkeit enden, möchte ich Euch heute dran teilhaben lassen. Wie viele andere auch, haben mich die Ereignisse der letzten Tage sehr betroffen gemacht. Paris ist eine Stadt, zu der ich sehr persönlichen Bezug habe. Auch zu anderen Zeiten haben mich die Ereignisse in den Pariser Banlieus berührt, weil ich die Sprache, die Menschen, und auch die Orte teilweise kenne. Und ja es rührt in mir, so tragisch das ist, eine emotionale Seite an, die ich nicht spüre, wenn ich von 2000 Toten in Nigeria lese. Da fühle ich mich emotional überfordert und hilflos und mache zu.
Aber in den letzten Tagen stellen sich mir Fragen.
Viele Fragen auf die ich keine Antwort und zu denen ich nur zum Teil eine Meinung habe. Ich will dieses Fragen heute in den Raum stellen, mit Euch teilen. Zum einen, weil ich nicht in die Sprachlosigkeit abrutschen will, die ich von mir kenne, wenn ich nicht weiß, was ich tun oder wie ich etwas emotional aushalten kann. Und zum anderen, weil ich das Gespräch, den Austausch und auch unsere Entwicklung als Menschen anregen will. Weil ich auch in meinem Verständnis von sozialer Verantwortung dafür verantwortlich bin mich als Teil dieser Gesellschaft, als Teil des Ganzen einzubringen. Gleichzeitig spüre auch ich jetzt nach einer Woche eine Ermüdung und eine Überforderung mit dem Thema.
Ich wage jetzt trotzdem meine Fragen und Gedanken in den gemeinsamen Denkraum zu stellen:
Was braucht unsere Gesellschaft?
Wie können Menschen wirklich gut zusammenleben, wenn ihre Bedürfnisse so unterschiedlich sind?
Wie kann die Spirale der strukturellen Beschämung unterbrochen werden?
Wie würde Konfrontation und Auseinandersetzung auf Augenhöhe aussehen?
Wie schützt sich der Einzelne? Wie schützt sich eine Gruppe?
Aber auch was ist mein Verhältnis zu Humor und Satire?
Was ist Demokratie?
Warum mache ich was ich mache?
Und was ist wirklich Meinungsfreiheit?
Wo nehme ich mir die Freiheit meine Meinung zu sagen? und wie oft nehme ich mir die Freiheit meine Meinung nicht zu sagen?
Wo bin ich offen und doch geschlossen?
Viele dieser Fragen stellen sich auf gesellschaftlicher Ebene, sind Themen von politischer und kultureller Relevanz.
Da kommt mir manchmal der Gedanke, dass ich mich eigentlich ganz woanders einbringen sollte. Auf einer anderen Ebene, gesellschaftlich oder politisch. Da würde es sich vielleicht nach größeren Schritten anfühlen. So sind es oft so kleine Schritte. Und ich fühle mich in Momenten, wie diesen von der Herausforderung überfordert.
Aber ich bin da, wo ich bin und mache das auch gerne, was ich mache. Ich arbeite in meiner Arbeit großteils auf der Mikroebene. Mit der Beziehung zwischen Männern und Frauen, mit den Beziehungen von Eltern und Kindern, mit den Beziehungen von Fachleuten mit Klienten und Patienten. Auf der Ebene von einem Menschen zum anderen. Ich stehe für eine Kultur der Wertschätzung ein, die sich nicht auf Allgemeinplätze bezieht, sondern auf innere Werte des Einzelnen. Auf das Einzigartige und das Individuelle meines Gegenübers, auf die Beziehung und die Werte, die zwischen uns entstehen. Nach der intensiven Arbeit diesen Herbst mit dem Thema Scham und Menschenwürde, wird mir auch noch anders bewusst, auf wie vielen Ebenen Beschämung jetzt allein in diesen Tagen passiert, wo vermeintlich alle zusammenstehen. Es macht viel Sinn, dass es für uns viel sicherer ist, uns mit einem Plakat oder Posting „je suis Charlie“ zu zeigen, als uns mit den Fragen und der Betroffenheit zu zeigen, die auf persönlicher Ebene da sind.
Es stellt sich die Frage, was ist Meinungsfreiheit? Ja ich habe Meinungen, die sind meine persönliche Mischung aus meinen Erfahrungen, meinem Wissen, dem was mich emotional berührt und betroffen macht und meiner Geschichte. Und ja ich bin für Meinungsfreiheit, ja ich bin sehr dankbar in einer Demokratie zu leben. Aber wie oft halte ich meine Meinung zurück? Wo nehme ich mir überhaupt die Freiheit mit meiner Meinung sichtbar zu werden. Wo zeige ich mich?
Für mich ist es oft leichter in Fachkreisen als Psychologin oder Familientherapeutin Wissen und Erfahrung einzubringen, als mich wirklich zu zeigen. Ich habe Angst vor Verletzungen, die mich tief treffen. Ich weiß sehr gut, wie verwundbar und verletzlich ich bin. Aber ich weiß auch wie leer ich mich nach Diskussionen und Gesprächen fühle, in denen Meinungen und Überzeugungen „ohne den Menschen dahinter“ ausgetauscht werden.
Die größte Gefahr für das Fortbestehen und Entwickeln von Meinungsfreiheit ist meiner Erfahrung nach unsere Kultur der Bewertung! Ist aus meiner Sicht unsere Dialogunfähigkeit, unsere Angst uns persönlich und verletzlich zu zeigen, und daher nie wirklich in Kontakt gehen, wenn nicht alles harmonisch ist.
Ein Grund warum ich diese Arbeit mache, ist weil mir Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit und in all ihrer Würde sehr am Herzen liegen. Weil ich den großen Wert von persönlichen Kontakt und wirklicher Begegnung schätze. Ich weiß von mir selber, wie in meinem Alltag letztlich die Mikroebene für mich die wesentlichste ist, wenn es um mich und meine Entwicklung geht, wenn es um mein Wohlbefinden geht. Und weil ich schon unglaublich viel in meinem Leben in Konflikten gelernt habe und ich konstruktive Konflikte und ein tiefes Ringen um das, was wesentlich ist, sehr schätze.
Aber auch Humor entsteht zwischen mir und anderen. Ein Grund immer wieder mal auf Facebook reinzuschauen, ist für mich der Wortwitz und die Sprachgewandtheit einiger Menschen, die hier lokal etwas bewegen. Wenn Dinge gut und humorvoll, manchmal auch mit der notwendigen Schärfe angesprochen werden, bin ich oft sehr dankbar, dass es von Menschen angesprochen wurde, die sich zeigen, die wahrgenommen werden.
Im Arbeiten mit Familien und Paaren erlebe ich aber auch oft, wie Sarkasmus Hierarchien aufrechterhält. Wie Ironie verwendet wird, um Macht über andere zu haben, um sich abzugrenzen, und vieles mehr. Ich erlebe viel Zerstörung und Verletzung durch vermeintlichen Humor. Ich erlebe aber auch viel Betroffenheit und Heilung, wenn im Persönlichen die Verletzung sichtbar wird.
In der Vorbereitung für diesen Newsletter ist mir der Artikel „die Botoxkultur schadet unseren Kindern“ untergekommen, den mir Jesper Juul kurz vor Weihnachten schickte. Er beschreibt, dass wir unseren inneren Kompass brauchen. Die Notwendigkeit uns wirklich zu kennen, uns selbst wertzuschätzen und unsere Feinwahrnehmung zu schulen, und von der realen Gefahr, die von diesem am außen orientierten Umgang mit uns selbst ausgeht.
Für mich bleibt bei all diesen Fragen, aber immer wieder das Spüren der Erde unter meinen Füßen, der Atem, der mich ständig belebt und der Blick, wenn ich gesehen werde oder jemanden wirklich sehe. Meine Wahrnehmung von dem was im Moment ist und meine schöpferische Kraft etwas neu und anders anzugehen.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein Jahr des gemeinsamen Ringens um das Wesentliche im Zwischenmenschlichen und ein Jahr des „zu mir“ und „zum anderen“ Kommens. Danke fürs Anteilnehmen und Anregen lassen.